„Flüchtlingskrise“ und autoritäre Integration. Zu einigen Aspekten der Reorganisation staatlicher Kontrollpolitiken

Refugees Welceome -staatlichen Rassismus stoppen! Titelbild der Gewantifa-Broschüre "Staatlicher Terror und Nazi-Terror gegen Refugees 2015/16" vom Mai 2016Der folgende Text ist der Zwischenstand einer Diskussion, die wir seit Ende 2015 unter uns und mit einigen Freundinnen und Freunden geführt haben. Ausgangspunkt war zum einen der Versuch, die Tag für Tag erfahrbare Widersprüchlichkeit staatlichen Handelns in der sogenannten Flüchtlingskrise auf den Begriff zu bringen. Zum anderen leitete uns ein Unbehagen angesichts einer Willkommensszenerie, die einerseits mit bewundernswertem Engagement praktische Unterstützung organisierte, sich andererseits aber – teilweise sehr bewusst – politisch abstinent verhielt. Zu diesem Unbehagen gehört, dass in unserer Wahrnehmung auch die politische Linke – uns eingeschlossen – einigermaßen sprachlos blieb, zumindest aber den politischen Herausforderungen nicht im Ansatz gewachsen zu sein schien…Artikel der Gruppe Blauer Montag (Hamburg) im Heft 20 (2017) der Zeitschrift Sozial.Geschichte Online externer Link . Die Hamburger Gruppe Blauer Montag diskutiert in ihrem Beitrag „Flüchtlingskrise“ und autoritäre Integration die Folgen und Perspektiven der sogenannten Flüchtlingskrise des Jahres 2015, nicht zuletzt aus der Erkenntnis heraus, dass die bundesdeutsche Linke bislang kaum Alternativen zu der sich entwickelnden „autoritären Integration“ formuliert hat. Uns wichtig im Text:

  • … Dennoch ist, jenseits aller strategischen Überlegungen in Berlin oder Brüssel, die Reorganisation des Migrationsregimes ein umkämpfter Prozess. Das ergibt sich zum einen mit Blick auf die Widersprüche und Interessengegensätze innerhalb der Apparate und der herrschenden Klassen. Zum anderen aber hängt sie davon ab, wie sich soziale Bewegungen entwickeln, an denen sich die herrschenden Pläne brechen könnten. (…) Während in den 1980er und 1990er Jahren „Integration“ und „Integrationspolitik“ die emanzipatorische Antwort auf die Staatsdoktrin von „Gästen“, „Leitkultur“, „Anpassung“, „Assimilation“ und „Toleranz“ war, so verschwindet in der jetzigen Debatte jede Idee von gleichen sozialen, kulturellen und letztlich politischen Rechten und Teilhabemöglichkeiten am gesellschaftlichen Leben bei gleichzeitiger Achtung und Respektierung von Verschiedenheit. Statt auf Rechtsdurchsetzung, Migrant/-innenselbstorganisation und Antidiskriminierung beziehungsweise die Beseitigung der strukturellen Benachteiligung von Menschen mit Migrationshintergrund auf dem Wohnungs- und Arbeitsmarkt, im Bildungssystem und allen Bereichen des alltäglichen Lebens orientiert „Integration“ im Moment auf die verbindliche Anerkennung einer imaginierten und gleichzeitig beschworenen „Wertegemeinschaft“, auf eine Integrationspflicht und auf unverhohlene Drohungen gegenüber „Integrationsverweigerern“. Gleichzeitig wird ein – wie auch immer definiertes – „Integrationsversagen“ nicht als Versagen und Fehlfunktion der Systeme Arbeitsmarkt, Wohnungsmarkt, Schule etc. dargestellt, nicht als Ergebnis falsch konzipierter und zu schlecht ausgestatteter Maßnahmen und Unterstützungsangebote, sondern als individuelles, gerne auch als schuldhaftes, Versagen des/der Migrant/-in. Diese Parallelität zur ideologischen Offensive der Agenda 2010 ist weder zufällig noch gänzlich neu… Selbstverständlich bedeutet „Integration“ immer die Integration in die real existierende Klassengesellschaft, in zunehmend prekäre Lohnarbeit und in zunehmend prekäre soziale Sicherungssysteme. Selbst gelungene „Integration“ kann unter diesen Bedingungen für die allermeisten Flüchtlinge und Migrant/-innen nur volle Gleichberechtigung in der Ausbeutung bedeuten. (…) Wenn es nicht gelingt, das Primat des ausgeglichenen Haushalts zu brechen, bedeutet das in den kommenden Jahren geradezu zwangsläufig eine massive Konkurrenz unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen um knapp gehaltene Ressourcen. Diese Konkurrenzkämpfe werden zumindest potenziell stärker rassistisch konnotiert, und sie werden sich nicht zuletzt auch als eine Konkurrenz um Sozialleistungsansprüche ausdrücken. (…) Während die Politik darauf mit „Teile und herrsche“ reagiert, bleibt eine linke Antwort noch aus. Aus unserer Sicht müsste diese zunächst einmal den Konkurrenzmechanismen und Spaltungslinien Forderungen entgegenstellen, die Zugänge zu Wohnraum, Arbeit, Einkommen, Bildung etc. für alle in den Mittelpunkt stellen. Dies ist beileibe keine neue Idee, aber angesichts der momentanen gesellschaftlichen Entwicklung scheint sie aktueller denn je. Vielleicht erfordert das auch ein gewisses Umdenken in der linken Flüchtlingsunterstützung. Diese versteht sich, so unser Eindruck, nach wie vor in erster Linie als Solidaritätsarbeit; sie bezieht sich eher weniger aus eigenen Kämpfen heraus auf die Geflüchteten…
Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=113169
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