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Algerien: Leere Kassen, tote Städte…?

Junge Erwerbslose protestieren in Algerien: Ein Jahr Gefängnis!Seit Anfang Januar 17 fanden einige Tage lang massive soziale Proteste in Algerien, vor allem im Nordosten des Landes, statt. Die Regierung zeigt Anzeichen von Nervosität. Unterdessen wurde jüngst ein Gewerkschafter in Algerien zu einer sechsmonatigen Haftstrafe verurteilt…“ Eine gekürzte Fassung dieses Artikels, dessen Langfassung vom Verfasser Bernard Schmid am 13.1.2017 nachträglich überarbeitet wurde, erschien am Donnerstag (den 12. Januar 16) in der Berliner Wochenzeitung Jungle World

Es gibt Jahrestage, an die sich kaum jemand erinnern möchte. Genau 25 Jahre war es an diesem Mittwoch – den 11. Januar 17 – her, dass am 11. Januar 1992 die algerische Armee eingriff und Staatspräsident Chadli Bendjedid absetzte. Dadurch wurde zugleich die laufende Parlamentswahl abgebrochen, deren erster Durchgang am 26. Dezember 1991 stattgefunden hatte und deren zweite Runde für Ende Januar 1992 vorgesehen war. Die Stichwahlrunde fiel aus. Auf diese Weise wurde ein, durch Teile der Bevölkerung sehnlich erwarteter und durch andere Gesellschaftsteile als Katastrophe erlebter, Wahlsieg der „Islamischen Rettungsfront“ (FIS) verhindert und zugleich die Tür zu einem blutigen Bürgerkrieg aufgestoßen. Letztere dauerte noch bis 1999; vgl. http://jungle-world.com/artikel/1999/43/29378.html externer Link

Doch kommen wir zur aktuellen Situation. Manche europäischen Beobachter nutzen den Vergleich, um sich kalte Schauer über den Rücken zu jagen oder um vorgefasste politisch-militärische Vorschläge vorzutragen. Das algerische Regime nutzt ihn, um Unheil von sich und seinen Pfründen abzuwehren. In einer Reihe von Veröffentlichungen und Verlautbarungen wird jedenfalls in jüngster Zeit – aus unterschiedlichen Motiven – das Szenario beschworen, wonach Algerien „das nächste Syrien“ am Südufer des Mittelmeers werden könnte, falls das amtierende Regime ins Schwanken käme.

Pierre Defraigne, vormaliger Generaldirektor der EU-Kommission und Direktor eines Think-Tanks namens Madariaga-College of European Foundation, schrieb etwa im Dezember 16 in der Zeitung La libre Belgique in warnendem Tonfall, Algerien könne „das nächste Aleppo“ werden, „in der Nachbarschaft Europa“. (Vgl. http://www.lalibre.be/debats/opinions/apres-alep-l-algerie-opinion-585382d0cd70fa7e37c4c7c7 externer Link) Allerdings ging es ihm dabei vor allem darum, ein Vorhaben zu befördern, das sich seit der Wahl von Donald Trump zum US-Präsidenten ohnehin in der Debatte befindet: eine stärkere, von den USA unabhängige, „gemeinsame europäische Verteidigung“.

In Wirklichkeit unterscheidet sich die Situation beider Länder jedoch erheblich. Denn Algerien hat einen blutigen Bürgerkrieg ähnlich dem in Syrien bereits seit längerem hinter sich: In den Jahren von 1992/93 bis 1998/99 bekämpften sich die Staatsmacht und bewaffnete Islamisten, rund 150.000 Menschen – Kombattanten und vor allem zwischen beiden Lagern stehende Zivilisten – wurden getötet. Zuvor hatten Unruhen im Oktober 1988, als das Einparteiensystem des FLN (Nationale Befreiungsfront) implodierte, eine Art „Arabischen Frühling“ über zwanzig Jahre vor dem in Tunesien und Ägypten ausgelöst. Zwei Jahre lang hielt damals eine reale demokratische Öffnung vor, Militärs und radikale Islamisten führten sie jedoch in eine Sackgasse. Die Sympathien innerhalb der Bevölkerung für Jihadisten und Salafisten, die auch in Algerien nach wie vor aktiv sind, fallen deswegen heute insgesamt eher gering aus.

Die Freitagspredigten in vielen Moscheen in ganz Algerien nahmen am vorigen Freitag, den 06. Januar 17unterdessen einen politischen Klang an. Die Imame hatten sich gefälligst für „Stabilität und Sicherheit“ auszusprechen und gegen eine fitna Stellung zu beziehen. Unter diesen religiösen Begriff wird traditionell ein Zwist, ein „Bruderstreit“ unter gläubigen Muslimen gefasst. Er ist negativ besetzt und bezeichnet ein Phänomen, zu dessen Vermeidung die Gottesfürchtigen aufgefordert sind.

Ein Rundschreiben des „Ministeriums für religiöse Angelegenheiten und Stiftungen“ war an alle vom Staat anerkannten Vorbeter in den Moscheen gegangen. Es trug den roten Stempelaufdruck Musta’agil – also „dringlich“ – und gab diese offizielle Sprachregelung aus. Ein Faksimile wurde in Zeitungen veröffentlicht. (Vgl. Abbildung unter: http://www.huffpostmaghreb.com/2017/01/05/imams-instruction-bejaia-_n_13979506.html externer Link) Dass die Regierung solcherart in die Predigten eingriff, hatte einen Grund, der zuvor in Kabinettskreisen für Beunruhigung sorgte. Auch wenn man sich alle Mühe gab, dies nicht zu erkennen zu geben.

Muffensausen in Regierungskreisen

Premierminister ’Abdelmalik Sellal hatte am vorigen Donnerstag sogar extra eine Ansprache gehalten, um jeden Eindruck weit von sich zu weisen, man fürchte soziale Unruhen – ähnlich vielleicht denen im Winter 2010/11 in Tunesien, die in mehreren Ländern der Region politische Umbrüche auslösten. „Wir kennen keinen Arabischen Frühling, und er kennt uns nicht! In einigen Tagen feiern wir Yennayer“, erklärte der seit 2010 amtierende Regierungschef dazu. Als Yennayer – sprachgeschichtlich mit Januar verwandt – bezeichnet man das Neujahrsfest der Berberbevölkerungen in Nordafrika.

Erst seit 2002 sind die Berbersprache und –kultur in Algerien offiziell anerkannt; Erstere wurde damals neben dem Arabischen zur Amtssprache erhoben. (Vgl. http://jungle-world.com/artikel/2002/12/24254.html externer Link) Zuvor waren die rund ein Drittel Berber unter der algerischen Bevölkerung in vielfacher Hinsicht diskriminiert worden, ihre kulturellen Praktiken wurden zugunsten weitgehend mystifizierter „arabisch-muslimischer Wurzeln“ des Landes als minderwertig abgetan.

Durch seine Bezugnahme auf die berberisch geprägte Festbezeichnung versuchte Sellal, diesen Bevölkerungsanteil und vor allem den gesellschaftlich sichtbarsten Teil der in viele Gruppen aufgespalteten Berber – die in ihrer Mehrheit östlich der Hauptstadt Algier lebenden Kabylen – beruhigend anzusprechen. Denn das Bergland der Kabylei, das bereits 1980 und 2001 massive Unruhen erlebte, bei denen es damals eher um kulturelle Freiheiten ging, war auch in der ersten Januarwoche dieses Jahres in Bewegung geraten. Dieses Mal ging es jedoch weit eher um soziale Forderungen.

Anlass war die Unterzeichnung des Haushaltsgesetzes für 2017 durch Staatspräsident Abdelaziz Bouteflika (korrekt aus dem Arabischen transkribiert: ’Abdel’aziz Boutefliqa) am 28. Dezember 16. (Vgl. u.a. http://www.lemonde.fr/afrique/article/2016/12/29/en-algerie-dans-beaucoup-de-domaines-il-y-a-une-amelioration_5055310_3212.html externer Link) Es sieht sparpolitische Einschnitte vor, aufgrund derer die Preise für staatlich subventionierte Grundbedarfsgüter wie den Nahverkehr steigen, sowie eine Anhebung der Mehrwertsteuer von, je nach Produktklasse, 7 auf 9 oder von 17 auf 19 Prozent. Wie anderswo auch handelt es sich bei dieser Konsumbesteuerung um die unsozialste Steuer, da sie grundsätzlich einkommensunabhängig ist.

In der größten Stadt der Kabylei, Bejaïa am Mittelmeer, traten am ersten Montag im Januar daraufhin die Inhaber von Verkaufsläden in einen Streik unter dem Namen „Operation Tote Stadt“. Wenige Meter vom Sitz der Wilaya – der Bezirksregierung – entfernt brachte eine Anti-Aufruhr-Einheit der Polizei einen Demonstrationszug zum Stehen. Daraufhin kam es zu heftigen Auseinandersetzungen, infolge derer mindestens zehn Menschen, darunter auch einzelne Polizisten, in die Notaufnahme von Krankenhäusern eingeliefert wurden. Ein Bus des staatlichen Transportunternehmens ETUB wurde angezündet. Ab Mittwoch, den 04. Januar 17 kam es daraufhin zu mehreren Dutzend Festnahmen.

Die Revolte und die „Tote Städte“-Bewegung hatten zugleich auf andere Städte der Kabylei wie Tazmalt und Akbou übergegriffen und auch Bouira, eine zwischen der berbersprachigen Region und Algier liegende Stadt mit sprachlich gemischter Bevölkerung, erreicht. An mehreren Orten wie Raffour wurden auch Überlandstraßen blockiert. (Vgl. u.a. https://berthoalain.com/2017/01/05/contre-la-loi-de-finance-emeute-a-tazmalt-4-janvier-2017/ externer Link und, für eine Zusammenfassung auf einer kabylischen nationalitisch-separatistischen Webseite – ihre sonstigen Inhalte sind deswegen eher mit Vorsicht zu betrachten -: http://www.siwel.info/Les-affrontements-ont-repris-a-Tazmalt-a-cause-du-refus-de-la-police-coloniale-de-liberer-une-dizaine-d-individus_a10304.html externer Link)

Am Dienstag und Mittwoch darauf (03. und 04. Januar 17) dkursierten auch in der Hauptstadt Algier und in den sozialen Netzwerken zahlreiche Gerüchte über den Ausbruch von Unruhen auch dort. Auf sie schienen viele Menschen mit Spannung zu warten. Die Situation blieb jedoch diffus. Aus der Küstenstadt Ain Benian, einem Vorort westlich von Algier, wurden bei Facebooks Videos als Beweis gewaltförmiger Auseinandersetzungen mit der Polizei präsentiert. Eine Überprüfung ergab jedoch, dass es sich um Aufnahmen vom Neujahrswochenende – vor der sozialen Protestbewegung – handelte, die Konflikte zwischen zwei rivalisierenden Gangs zeigen. (Vgl. https://www.youtube.com/watch?v=Xk-wuqaayaw externer Link  und http://www.huffpostmaghreb.com/2017/01/03/violences-et-pillages-a-bejaia-incidents-a-alger-et-des-rumeurs-en-reseau_n_13935388.html externer Link)

In den Stadtteilen Bab Ezzouar und Boushaki nutzten am Dienstag, den 03. Januar 17 bandenförmig organisierte Elemente und ein ihnen folgender Mob die knisternde Stimmung, um auf Chinesen gehörende Läden loszugehen und diese gezielt zu plündern. Anwohner gingen nach einer guten Viertelstunde dazwischen, setzten diesem Treiben ein Ende und verhinderten dadurch Schlimmeres.

Mangels einer Strukturierung des Protests verpuffte er auf diese Weise. Die Behörden nahmen in Algier 39 Menschen fest, die sie beschuldigen, auf die eine oder andere Weise Unruhe gestiftet zu haben.

Unterdessen herrscht eine angespannte Ruhe. Algerien hat im Zeitraum seit 2014 rund 70 Prozent seiner jährlichen Einnahmen aus dem Rohölverkauf aufgrund eines gesunkenen Barrel-Preises verloren. Sechzig Prozent der Staatseinnahmen insgesamt, doch 98 Prozent der Devisenerlöse aus dem Export hängen vom Erdöl- und Erdgasverkauf ab. Versuche in der Vergangenheit, die algerische Ökonomie zu diversifizieren und unabhängiger von diesen beiden Rohstoffen zu werden, gehen vor allem auf die staatssozialistische Ära bis Ende der 1970er Jahre zurück und scheiterten bislang. Algeriens amtierender Präsident Boutefliqa (Bouteflika) ist zudem seit einem Schlaganfall 2013 de facto amtsunfähig und weitgehend gelähmt. Der harte Kern des Regimes stellt sich seitdem auf ein vorläufiges Überwintern ein, um über die 2011 in Tunesien ausgelöste Welle von Veränderungen hinwegzukommen. Wie lange die Bevölkerung dabei mitspielt, ist jedoch fraglich.

Last Minute: Als letzte Meldung zu Algerien wurde bekannt, dass der Vorsitzende einer algerischen unabhängigen Gewerkschaft (syndicat autonome) zu einer Haftstrafe von sechsmonatiger Dauer verurteilt wurde. Mellal Raouf, dem Vorsitzenden der „Unabhängigen nationalen Gewerkschaft der Werktätigen/Arbeitenden der Elektrizitäts- und Gasbetriebe“ (SNATEG), wurde vorgeworfen, Korruption beim staatlichen Energieunternehmen SONELGAZ aufgedeckt und kritisiert zu haben. Über acht Millionen Haushalten waren auf illegale Weise überhöhte Energiepreise abgerechnet worden. Dafür soll er nun mit sechs Monaten Gefängnis bezahlen. (Vgl.  http://www.world-psi.org/fr/algerie-syndicaliste-condamne-six-mois-dincarceration externer Link)

Als syndicats autonomes oder „unabhängige Gewerkschaften“ bezeichnet man in Algerien solche Beschäftigtenorganisationen, die nicht dem offiziellen Dachverband UGTA (Allgemeine Union der algerischen Arbeitenden/Werktätigen) angegliedert sind. Die UGTA wurde 1956 mitten im algerischen antikolonialen Befreiungskrieg gegründet und wirkte damals als verlängerte Arm der antikolonialen Partei FLN (Nationale Befreiungsfront). Das war während des antikolonialen Befreiungskriegs legitim, ehrbar und… gefährlich, doch wurde es zum ernsthaften gewerkschaftspolitischen Problem, nachdem der FLN ab 1962 zur Staats- und ab 1963 zur Einheitspartei mutierte. Die UGTA ist bis heute alles andere als unabhängig von der Staatsmacht. Die (nicht der UGTA angehörenden) syndicats autonomes sind seit einem Gesetz aus dem Jahr 1990 legal anerkannt und offiziell zugelassen. Seit Anfang der 2000er Jahren nehmen sie – nachdem Ende des Bürgerkriegs – einen neuen Aufschwung, doch sehen sie sich zahlreichen Repressalien und Schikanen seitens der staatlichen Behörden ausgesetzt.

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=109935
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