„Digitalisierung ist Klassenfrage“ – 24. isw-forum zu digitaler Arbeit und Industrie 4.0

isw-report 106: Digitale Arbeit und Industrie 4.0„Wir diskutieren heute über die sich entwickelnde Realität der Wirtschaft. Derzeit gibt es 10 Millionen intelligente Roboter, 2020 sollen es Milliarden sein“, mit diesen Worten leitete Conrad Schuhler das 24. isw-forum im Münchner Gewerkschaftshaus ein. Trotz eines bayernweiten Aktionstages gegen das Freihandelsabkommen CETA, das isw schickte solidarische Grüße, kamen mehr als 70 Menschen. Vor allem Gewerkschafter und Aktivisten sozialer Bewegungen wollten über die vierte industrielle Revolution diskutieren. Die Referenten und ihre Themen versprachen einen interessanten Samstag. Hans-Jürgen Urban, geschäftsführendes Mitglied im Vorstand der IG Metall, referierte über das Spannungsfeld der digitalen Arbeit – stellt diese eine reine Rationalisierungsstrategie des Kapitals dar, oder beinhaltet sie auch Humanisierungspotential für die arbeitenden Menschen? Thomas Hagenhofer, Mitglied im ver.di-Arbeitskreis Medienberufe, beschäftigte sich mit der Frage, ob Digitalisierung zu menschenleeren Fabrikhallen führen wird und wie weitere Auswirkungen auf die Beschäftigung aussehen könnten. Last but not least drehte sich bei Marcus Schwarzbach, Berater für Betriebsräte, alles um Digitalisierung und Arbeitszeit. (…) Sollten die hier nur angedeuteten Referate und Diskussionsbeiträge das Interesse für eine tiefergehende Beschäftigung mit der Thematik Arbeit und Industrie 4.0 geweckt haben, können alle Beiträge im isw-report 106 nachgelesen werden. Dieser wird im kommenden September erscheinen…“ Bericht von Kerem Schamberger vom 18. Juli 2016 beim isw – Verein für sozial-ökologische Wirtschaftsforschung externer Link. Siehe nun dazu den isw-report 106: Digitale Arbeit und Industrie 4.0:

  • isw-report 106: Digitale Arbeit und Industrie 4.0
    Im Juli 2016 veranstaltete das isw sein 24. Forum: „Digitale Arbeit und Industrie 4.0“. Der isw-report 106 dokumentiert die Beiträge der ReferentInnen. Das Forum beschäftigte sich mit der „vierten Umwälzung“ der Wirtschaft: nach Mechanisierung, Elektrifizierung und Informatisierung nun die Digitalisierung. Es geht nicht um eine ferne Zukunft, sondern um die sich heute entwickelnde Realität. Im Jahr 2020 werden mehr intelligente Roboter auf der Erde sein als Menschen. Werden diese neuen Technologien als Rationalisierungsstrategie des Kapitals eingesetzt oder kann es gelingen, sie als Humanisierungspotential für die Beschäftigten anzuwenden? Dazu referierte Hans-Jürgen Urban vom geschäftsführenden Vorstand der IG Metall. Thomas Hagenhofer (Mitglied im ver.di-Arbeitskreis Medienberufe) ging der Frage nach, ob die Digitalisierung zu menschenleeren Fabrikhallen führen wird. Marcus Schwarzbach (Berater für Betriebsräte) erörterte die Frage, was die Digitalisierung für die Arbeitszeit bedeutet. Aus der lebhaften und streitbaren Diskussion bringen wir zwei Beiträge: Walter Listl hob die Rolle von Kriegstechnik 4.0 hervor, Jan C. Zoellick stellte heraus, dass der notwendige neue Wertekontext der des Postwachstums sei.“ isw-Info zum report 106 externer Link (September 2016, 28 Seiten, 2,50 €)
  • Siehe dazu exklusiv im LabourNet Germany:  Arbeiten in der Digitalisierung. Über Rationalisierung, Humanisierung und Klassenfragen im Gegenwartskapitalismus. Auszug aus der verschriftlichten Fassung des Vortrages von Hans-Jürgen Urban auf dem 24. isw-forum:

Hans-Jürgen Urban

Arbeiten in der Digitalisierung.
Über Rationalisierung, Humanisierung und Klassenfragen im Gegenwartskapitalismus

Der Hype um die Digitalisierung von Arbeit will kein Ende nehmen. Begriffe wie Cyber-Physical-Systems, Smart Factory, Big Data, Cloudworking und Crowdsourcing vagabundieren durch die wissenschaftlichen, gesellschaftlichen und gewerkschaftlichen Diskurse. Doch Debattenintensität und Erkenntnisfort-schritt verlaufen nicht synchron. Selbst der Kernbegriff Industrie 4.0 bleibt seltsam unpräzise, vom Wis-sen über Entwicklungspfade und Folgewirkungen ganz zu schweigen (Ittermann/Niehaus 2015).

Wird die Industrie 4.0 den »Industriestandort Deutschland upgraden« (Heng 2014) und als »wesentlicher Treiber für den Erhalt und Ausbau der Konkurrenzfähigkeit Deutschlands« (Bauer u.a. 2014: 6) wirken? Stehen wir gar am Beginn eines »neuen Maschinen-Zeitalters« (Brynjoylfsson/McFee 2014), das Produzenten und Konsumenten gleichermaßen neue Horizonte öffnet? Oder wird die Digitalisierung der Industrie riesige Produktivitätssprünge realisieren, die in den USA bis zu 50 % der Arbeitsplätze vernichten (Frey/Osborne 2013) und in Deutschland fast 60 %, also 18,3 Millionen Arbeitsplätze, durch Roboterisierung bedrohen könnten (Brzeski/Burk 2015)? Oder handelt es sich bei der Debatte um einen emotional aufgeladenen Diskurs über Technologien, die in den Betrieben seit Jahren existieren, was die Rede von der neuen industriellen Revolution fragwürdig macht? Nichts Genaues weiß man nicht!

Dabei ist der Hype um die Industrie 4.0 »nicht die kausale Folge eines realen Standes technischer Ent-wicklungen, sondern diskursanalytisch betrachtet ein Fall professionellen agenda-buildings« (Pfeiffer 2015: 9; Herv. im Orig.). Hinter ihm stehen interessengeleitete Ambitionen und Hoffnungen, sind infolge der gesellschaftlichen Aufregung doch beachtliche Forschungsprojekte, Beratungsaufträge und neue Märk-te zu erwarten. In einem eigentümlichen Gegensatz dazu steht die Vorstellung eines klassen- und interessenübergreifenden, quasi nationalen Interesses an der Digitalisierung der Wirtschaft, die die Debatten vielfach transportieren. Infrastrukturelle Restriktionen, unternehmenspolitische Risiken und soziale Interessengegensätze drohen »im langen Schatten des Modewortes« zu verschwinden (Heng 2014: 2). Die Faszination technischer Zukunftsszenarien verdrängt die Erfahrungen mit den Folgen kapitalistischer Rationalisierung. Wenig spricht aber dafür, dass sich die Digitalisierung als eine sozialpartnerschaftliche Konsensmaschine erweisen wird. Auch bei der Industrie 4.0 handelt es sich zunächst und im Kern um eine Rationalisierungsstrategie bzw. -vision. Sie zielt auf die Erschließung umfassender Effizienzpotenziale, die durch neue Technologien sichtbar werden – mit ent-sprechenden Risiken für Beschäftigung, Entgelte und Arbeitsbedingungen. Den Rationalisierungscharakter der Digitalisierung anzuerkennen, erfordert jedoch keineswegs, die Logik der Humanisierung zu leugnen, die den neuen Technologien ebenfalls inne-wohnt. Zweifelsohne tragen sie auch die Möglichkeit von weniger Arbeitsbelastungen und Gesundheitsverschleiß in sich, Arbeitserleichterungen und inhalts-reichere Arbeitsaufgaben sind durchaus denkbar. Doch ob sich die Humanisierungspotenziale gegen die kapitalistische Rationalisierungsdynamik behaupten können, ist keineswegs ausgemacht.

Kein Zweifel: Hinweise auf kapitalistische Dynamiken und soziale Risiken sind gegenwärtig weniger en vogue als eine ungetrübte Gestaltungsrhetorik, die schon mal mit Zukunftskompetenz und Weltgewandtheit verwechselt wird. Deshalb erinnern die folgen-den Ausführungen daran, dass sich auch die Bedingungen der digitalen Arbeitswelt über interessen-und machtbasierte Verhandlungskompromisse her-ausbilden werden. Dabei wird in Übereinstimmung mit der neueren soziologischen Innovationstheorie betont, dass technologische Entwicklungspfade durch Kräfteverhältnisse und Rollenverständnisse der beteiligten Akteure in sozioökonomischen Innovati-onssystemen geprägt werden. Ob Technikeinsatz und Arbeitsorganisation im digitalisierten Unternehmen »gute Arbeit« ermöglichen, wird nicht zuletzt davon abhängen, ob es Betriebsräten und Gewerkschaften gelingt, sich als Humanisierungsaktivisten im Digitalisierungsprozess durchzusetzen – mit eigenen Konzepten und hinreichender Verhandlungsmacht. Denn, so die These, als sozialpartnerschaftliches Konsensprojekt jenseits sozialer Interessenkonflikte wird der Übergang zur smarten Fabrik nicht ablaufen. Gründe genug, der aufblitzenden Macht- und Interessen-vergessenheit in der Debatte vorzubeugen und sich an der Erarbeitung eines angemessenen gewerk-schaftlichen Rollenverständnisses zu beteiligen.

Die folgenden Ausführungen begreifen die Digitalisierung als Bestandteil eines kapitalistischen Restrukturierungsprozesses und als Rationalisierungsinitiative von Unternehmen, die sich auf Wettbewerbsmärkten zu behaupten haben. In diesem Kontext gilt es, sich bei der Analyse von Technikentwicklung und Interventionsmöglichkeiten vor »Technikdeterminismus« (Burkhard Lutz) wie vor »Ökonomismus« gleicher-maßen zu hüten. Erst dann öffnet sich der Blick auf Spielräume bei Technik- und Arbeitsgestaltung.

aus: isw-report 106 „Digitale Arbeit und Industrie 4.0“ – wir danken!

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=102135
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