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Europäische Gewerkschaften zum Brexit

Grafik zum Brexit von Joachim Römer - wir danken!Inzwischen sind die Äußerungen zum Ergebnis des britischen EU-Referendums Legion. Unmöglich – und unnötig – sie alle zu dokumentieren, kommentieren, was auch immer. Mit den Stellungnahmen einer Reihe europäischer Gewerkschaften lassen sich immerhin zwei der wesentlichen Fragen, die durch das Ergebnis entstanden sind, behandeln. Zum einen: Die Allseits beliebte Reaktion, das Referendum zeige, dass ein sozialeres Europa nötig sei ist (zumeist) so unehrlich wie eh und je. Niemand sagt dazu, dass ein wirklich soziales Europa bedeuten müsste, die in Stein gemeißelten neoliberalen Grundlagenverträge – also die EU – aufzukündigen, anders geht es nicht, denn die Normen, die durch diese Verträge gesetzt werden, sind neoliberal, menschenfeindlich und undemokratisch (siehe Oxi in Griechenland und unendlich vieles mehr). Zum anderen: Haben die Menschen im (vielleicht nicht mehr so sehr) Vereinigten Königreich gegen die EU gestimmt, oder gegen die „Fremden“? Also: Gegen Kapitalismus oder für Rassismus? Und was wäre eigentlich, wenn sich, zumindest bei vielen davon, beides vermischt hätte? Siehe dazu unsere Materialsammlung „Europäische Gewerkschaften zum Brexit“ vom 07. Juli 2016, womit natürlich auch die Linken in den Gewerkschaften gemeint sind…

Europäische Gewerkschaften zum Brexit

„Gewerkschaften über den »Brexit«“ bereits am 28. Juni 2016 in der jungen welt externer Link ist eine knappe Zusammenfassung der Stellungnahmen einiger (5) größerer Verbände aus unterschiedlichen Ländern zum Ergebnis des Referendums in GB, die im Wesentlichen einig sind in der Aussage, es müsse nun mehr Sozialpolitik in der EU und Europa gemacht werden

„Referendo no Reino Unido: há que respeitar o voto soberano do povo!“ am 24. Juni 2016 bei der CGTP externer Link ist die Stellungnahme des größten Gewerkschaftsbundes in Portugal, in der das Ergebnis als eine Niederlage des Kapitals bewertet wird und die Einhaltung des Wählerwillens gefordert. Die EU müsse nun mehr denn je darüber nachdenken, warum die Ablehnung gegen sie überall wachse und mit ihrer antisozialen und arbeiterfeindlichen Politik aufhören.


 

Das Gewerkschaftsforum Hannover hat uns dankenswerter Weise zwei Übersetzungen – der Stellungnahmen der CGIL und der USB, die reichlich konträr sind – zur Verfügung gestellt, die wir im Anschluss dokumentieren, danach noch interessante Stellungnahmen linker Strömungen innerhalb von Gewerkschaften

Die Unione Sindacale di Base (USB)

(In beiden Dokumenten: Vorbemerkung, Übersetzung, Anmerkungen und Einfügungen in eckigen Klammern:   Gewerkschaftsforum Hannover; Kontakt: gewerkschaftsforum-H@web.de)

Die größte linke italienische Basisgewerkschaft Unione Sindacale di Base (Basisgewerkschaftsunion – USB) kämpft seit langem für einen radikalen Bruch mit Euro und EU. In einer Stellungnahme auf ihrer Homepage (www.usb.it) vom 24.Juni 2016 begrüßt sie den Sieg des Brexit-Votums im britischen Referendum vom Vortag. Die Erklärung hat folgenden Wortlaut:

Brexit: Anders konnte es nicht laufen!

Eine jahrelange Finanzkrise, die schlimmste in der modernen Ära jemals erlebte, was Dauer und Tiefe anbelangt, Millionen Arbeitslose, heftige Kürzungen der Staatshaushalte, die einige der besten nationalen Wohlfahrtssysteme auf einen kärglichen Rest reduziert haben, ebenso wilde Attacken auf die Arbeiterrechte, Privatisierungen in Hülle und Fülle, Reduzierung der Demokratie auf ein Trugbild zugunsten einer Governance <Regierungsführung>, die den Diktaten der europäischen Bürokraten gehorcht, die ihrerseits den Ansprüchen eines Finanzmarktes Folge leisten, der mittlerweile keinen Kontakt mit der Realität mehr hat.

Die Vestalinnen <Anm.1> des Marktes und der Finanz waren sehr besorgt. Nicht zufällig haben sich alle möglichen politischen, ökonomischen und sozialen Institutionen und ihre Führer, die Massenmedien mit der „Financial Times“, dem Sprachrohr der Londoner City, an der Spitze, für das Remain stark gemacht und Tod und Teufel an die Wand gemalt.

Wie kann man sich da wundern, wenn außer der hohen Wahlbeteiligung der Austritt aus der EU in den Zonen, wo die weniger Betuchten wohnen, in den Zitadellen der Arbeiter und auf dem Land, das heißt bei denjenigen, die für die Krise hart bezahlen, den Sieg davon trug, während die Entscheidung für den Verbleib in London die Oberhand hatte?

Leider haben sich in der Kampagne für einen Verbleib in der Europäischen Union auch viele linke Kräfte engagiert, die Labour Party eingeschlossen, die sich doch mit einem neuen Parteiführer von Blairs schrecklich pro-neoliberaler Haltung distanziert hatte. Zu denjenigen, die die Wut der unteren Klassen und Schichten richtig interpretiert haben, gehörten einige Labour-Abgeordnete und vor allem die englische Transportarbeitergewerkschaft RMT.

Zu viele haben der Rechten, den Fremdenfeinden und den hetzerischsten Nationalisten das Banner der Opposition gegen diese europäische Konstruktion, gegen ihre Gesetze und ihre Verträge überlassen.

Hoffentlich bringt diese Lektion wenigstens diejenigen zum Nachdenken, die das Zerbrechen der Europäischen Union und das Ausscheiden aus dem Euro für eine Katastrophe halten und sich an einen hypothetischen „Plan B“ klammern, der keinerlei Chance auf Umsetzung besitzt. Hat uns dies Griechenland, das gedemütigt und ausgehungert wird, vielleicht nicht bewiesen?

Es gibt aber noch eine andere Tatsache festzuhalten: Jedes Mal, wenn die Leute sich per Abstimmung über die in den Brüsseler Hinterzimmern verfassten Verträge äußern konnten, haben sie sie abgelehnt: Das ist in Frankreich und Holland, in Irland, Dänemark, Griechenland und zuletzt in Großbritannien geschehen. Dasselbe Kennzeichen hat übrigens die Rebellion gegen das Loi Travail <Arbeitsmarktgesetz>, an der in Streiks und Demonstrationen Millionen von Arbeitern, Erwerbslosen, Schülern und Studenten in Paris und in ganz Frankreich beteiligt sind.

Die Eliten von Wirtschaft und Finanz, die multinationalen Konzerne, kontrollieren zwar die neuralgischen Zentren der Macht, doch es gelingt ihnen nicht, die Hunderten von Millionen verarmten Frauen und Männer zu überzeugen, dass all dies nur zu ihrem Besten ist.

Dies macht sie mit Sicherheit nicht weniger gefährlich. In der Vergangenheit hat das zu faschistischen Regimen, Kriegen und ungeheuren Zerstörungen geführt. Doch heute besteht die Möglichkeit und die Notwendigkeit auf die Übermacht der Wenigen über die Vielen zu reagieren, auf die zunehmende Verarmung von Dutzenden Millionen Menschen, auf die Ausbeutung, auf die immer größeren Verdienstmargen der internationalen Finanz und der wirtschaftlichen Großkonzerne.

Es ist an der Zeit, dass in Italien und in Europa das Banner des Bruches mit der Europäischen Union auf der richtigen Seite ergriffen und dabei die Diskussion über ihre strukturellen Eigenschaften vertieft und sie vergesellschaftet wird, indem man einen konkreten politischen Weg einschlägt, der die rechten Kräfte in unserem Land daran hindert, sich als die Verteidiger der unteren Schichten darzustellen. Überlassen wir diesen Leuten nicht die Tageslosung eines möglichen ITALEXIT.

Die USB hat sich bereits auf diesen Weg gemacht, indem sie einen Beitrag zur Entwicklung der Piattaforma Sociale Eurostop (Soziale Plattform Euro-Stopp) geleistet, sich an der Kampagne für das NEIN zum <von Regierungschef Matteo Renzi für Oktober oder November 2016 geplanten> Verfassungsreferendum beteiligt hat und den Prozess vorantreibt, der uns im kommenden Herbst zum Generalstreik bringen wird.

Anmerkungen:
1) Vestalinnen waren die altrömischen Priesterinnen der Vesta, das heißt der Göttin des Herdfeuers.

Die CGIL

Gewerkschaftsforum Hannover:

Die Brexit-Stellungnahme des mit ca. 5,5 Millionen Mitgliedern (die Hälfte davon allerdings Rentner!) größten, früher KP-nahen italienischen Gewerkschaftsbundes CGIL, der heute offen sozialdemokratisch und faktisch weitgehend regierungsnah ist, fasste das linke Infoportal „Contro la Crisi“ (www.controlacrisi.org) am 24.Juni 2016 prägnant zusammen. Das Sekretariat der CGIL äußert darin auch kaum verhohlene Kritik am bisherigen Verhalten des Europäischen Gewerkschaftsbundes (EGB). „Contro la Crisi“ wird in der Hauptsache von Fabio Sebastiani und Fabrizio Salvatori  betrieben. Die beiden waren ehemals für Gewerkschaften & Soziales zuständige Redakteure der vor Jahren aus Finanzmangel eingestellten Tageszeitung „Liberazione“ der DIE LINKE-Schwesterpartei Rifondazione Comunista (PRC) . Hochinteressant für die taktische Bewertung des Brexit-Votums in Großbritannien ist, dass die CGIL-Spitze – trotz ihrer eisenharten Pro-EU-Haltung – begierig den durch das Ergebnis des Referendums auf der Insel hervorgerufenen Schock des Establishments nutzt, um eine sozialere Politik zu fordern, für die sie selbst nie auch nur annähernd so viel Druck erzeugen konnte…

Brexit, die Position der CGIL (von Redaktion Contro la Crisi)

Das ist die Bestätigung des Scheiterns von Europas Wirtschafts- und Sozialpolitik

Für die CGIL ist der Ausgang des Referendums in Großbritannien „die Bestätigung des Scheiterns von Europas Wirtschafts- und Sozialpolitik“. Das ist der Kern des von der am Corso d’Italia <in Rom> ansässigen Gewerkschaftszentrale. Laut der CGIL erleben wir Politiken, die – inmitten der sich seit nunmehr fast einem Jahrzehnt hinziehenden Krise – zur Verschlechterung der Lebens- und Arbeitsbedingungen, zum Angriff auf das europäische Sozialmodell, zur Verschärfung der öffentlichen Verschuldung in den europäischen Ländern mit den größten Schwierigkeiten, zu einer Zunahme der Armut und der Ungleichheiten, zum Anstieg der Arbeitslosigkeit (speziell bei Jugendlichen und Frauen) „auf Niveaus“ geführt hat, „die Europa noch nicht kannte“.
Der von Susanna Camusso geführten Gewerkschaft zufolge „könnte ein Fortfahren in dieser Richtung zur endgültigen Scheidung zwischen den Bürgern und der Europäischen Union führen. Die Entscheidungen, die die EU-Kommission und die Regierungen treffen müssen, sind klar und dringlich: die Verträge und die Politik ändern. Es ist notwendig auf den Kampf gegen die Ungleichheiten, auf die Sozialpolitik, auf den Wohlfahrtsstaat, auf die öffentlichen Investitionen zur Ankurbelung des Wachstums, auf stabile Beschäftigung und auf die Perspektive zu setzen, die mit weiterführender und qualitativ hochwertiger (Aus-)Bildung verbunden ist, sowie auf den Schutz der Arbeits- und Bürgerrechte und die Integration.“
„Auch was den Europäischen Gewerkschaftsbund anbelangt“ – schließt die CGIL – „stehen wir an einem Scheideweg. Der EGB kann die Entscheidung, die soziale Dimension Europas wieder ins Spiel zu bringen, die Rückkehr zur zentralen Rolle der Arbeit und ihrem Wert im europäischen Kontext zu verlangen, auf der Änderung der verfehlten Wirtschafts- und Sozialpolitik der Europäischen Kommission zu bestehen, die Wiederaufnahme des europäischen Integrationsprozesses im Zeichen der Werte der Solidarität und der Anteilnahme und nicht der Konkurrenz unter den Arbeitnehmern sowie dem Sozialdumping zwischen den verschiedenen Staaten zu fordern, nicht länger aufschieben.“


 

„Scottish Socialist Party, Sinn Féin, Momentum and Left Unity on Brexit referendum result“ am 26. Juni 2016 bei der australischen Links externer Link ist eine ausführliche Dokumentation der Stellungnahmen linker Gruppen und Strömungen aus Großbritannien und Irland zu dem Referendum, die allesamt auch eine gewisse Präsenz in der Gewerkschaftsbewegung der betreffenden Länder haben. Wobei außer den in der Überschrift genannten auch noch Äußerungen anderer Gruppierungen dokumentiert sind, von denen die Mehrheit den Ausgang eher bedauert

„Making sense of the Brexit tide of reaction and the reality of the racist vote“ von Andrew Flood am 27. Juni 2016 beim Workers Solidarity Movement externer Link ist vor allem deswegen ein interessanter Beitrag, weil er konkret versucht, die veröffentlichten Statistiken über Wahlentscheidungen zu analysieren, anstatt schnelle Behauptungen in den Ring zu werfen. Wobei unter anderem deutlich wird, dass es sehr wohl ein Nebeneinander von Sozialkritik und Rassismus gegeben habe, dass aber beispielsweise das Element des Nationalismus in den Wahlanalysen unterbewertet würden. Wie auch ein nicht unbedeutender Anteil von Antifeministen in der Austrittswählerschaft vertreten waren. Während, was oft vergessen werde, ein bedeutender Teil der ArbeiterInnen gar nicht zur Wahl gehen durfte – die MigrantInnen eben

Siehe dazu auch: „Wer den Austritt aus der EU bezahlt: Dieselben, die auch den Verbleib hätten bezahlen müssen“ am 27. Juni 2016 im LabourNet Germany

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=100874
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